Die bisherige Forschung zum kolumbianischen Film, so die Autorin, gleiche einem „zusammenhängenden Mosaik aus kleinteiligen Fragmenten“. Die wenigen umfassen-deren Studien stammen dabei fast ausschließlich aus Kolumbien selbst oder den Vereinigten Staaten. Von einer breiten internationalen Rezeption des kolumbianischen Kinos kann (noch) keine Rede sein. Das liegt zum einen daran, dass viele Filme selbst nur schwer zugänglich sind oder als verschollen gelten, zum anderen daran, dass sich bis heute keine eigenständige Disziplin an den kolumbianischen Universitäten herausgebildet hat, die das nationale Filmschaffen zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht hat. Es ist deshalb um so mehr zu begrüßen, dass mit vorliegendem Band nun eine ebenso umfang- wie kenntnisreiche Studie zu diesem Thema vorliegt, die erste überhaupt in deutscher Sprache.
Der eigentliche Analyseteil der Arbeit gliedert sich in vier Kapitel, die dem chronologischen Verlauf der Entwicklung des kolumbianischen Filmes zwischen 1959 und 2015 folgen. Das erste Kapitel widmet sich der ersten Phase (1959-1978), in deren Mittelpunkt die Auseinandersetzung mit der so genannten „Violencia“, dem blutigen Bürgerkrieg zwischen Konservativen und Liberalen, in den 40er und 50er Jahren steht. Die Filme dieser Phase zeichnen sich in produktionstechnischer Hinsicht durch eine relative Unabhängigkeit von staatlichem Einfluss aus. In den vier hier untersuchten Filmen – Esta fue mi vereda von Gonzalo Canal Ramírez (1959), El río de las tumbas von Julio Luzardo (1964), Bajo de la tierra von Santiago García (1968) und Aquileo Venganza von Ciro Durán (1968) – erscheint Gewalt (in den ersten beiden Filmen) als ein unausweichliches Fatum, als ein sinnloser, übermächtiger Konflikt, dem man nicht ausweichen kann. Das Gewaltgeschehen wird beobachtet, dokumentiert und registriert. Die Frage nach den Tätern und ihrer Schuld wird nicht gestellt, die kolumbianische Gesellschaft als Ganzes ist für die „Violencia“ verantwortlich. In den beiden Filmen der späten 60er Jahre treten die (Hinter-)gründe stärker hervor. Das kapitalistisch-imperialistische Wirtschaftssystem und die ungleiche Macht- und Güterverteilung werden für die Gewaltexzesse verantwortlich gemacht.
In der zweiten Phase (1978-1993) wird durch die Gründung der Compañía de Fomento Cinematográfico, kurz FOCINE, eingeleitet. Diese Förderanstalt zur Finanzierung filmischer Produktionen durch großzügige Kreditvergaben an die Produzenten führt allerdings in den folgenden Jahren dazu, dass es zu großen finanziellen Verlusten kam, da die Filme bei weitem nicht die Erträge einspielten, um die Schulden zurückzahlen zu können. In den hier analysierten fünf Filmen – hervorzuheben sind Cóndores no entierran todos los días von Francisco Norden (1984) nach der gleichnamigen Romanvorlage von Gustavo Álvarez Gardeazábal und Pisingaña von Leopoldo Pinzón (1985) – ist eine deutliche politische und ideologische Aufladung feststellbar. Durch konkrete Benennung der Konfliktakteure und die Beleuchtung des realhistorischen Kontextes erscheint Gewalt nun als strategisches Mittel zur Durchsetzung politischer und ökonomischer Interessen.
Die Filme der dritten Phase (1993-2003) spiegeln die Veränderungen in der kolumbianischen Gesellschaft in den 80er und 90er Jahren wider. Die Gewalt hat sich generalisiert, ist vielgesichtig und allgegenwärtig geworden. Sie prägt nun die unterschiedlichsten Umgangsformen und Verhaltensweisen, tritt als physische und psychische Gewalt auf, breitet sich auf dem Land und in den Städten aus, bezieht neu entstandene Gewaltakteure (Drogenmafia, Paramilitärs) ein und dringt in unterschiedliche Lebensbereiche wie Musik, Mode oder Sprache ein. Zwei Filme machen dies in eindringlicher Weise deutlich: La vendedora de rosas von Víctor Gaviria (1998) und La virgen de los sicarios von Barbet Schroeder (2000) nach dem berühmten Roman von Fernando Vallejo. Sie bilden die Höhepunkte eines neuen Genres der Romanliteratur, die so genannte novela sicaresca. Im Mittelpunkt stehen die lebensfeindlichen Slums von Medellín, das trostlose Milieu der Straßenkinder und die wahllose Gewaltanwendung der sicarios.
In der vierten Phase (2003-2015) kommt es zu einer weiteren Auffächerung von Gewaltverhältnissen. Thematisiert werden sexuelle Gewalt gegen Frauen und die Entrechtung und Ausbeutung ethnischer Minderheiten. Und obwohl die Filmgesetze von 2003 und 2012 darauf abzielen, nicht wie früher die FOCINE Filmförderung durch Finanzspritzen zu betreiben, sondern Produzenten und Regisseure dazu aufzurufen, zur Verbesserung des nationalen Images beizutragen, kommt es in diesem Jahrzehnt zu verstärkten regime-kritischen Stellungnahmen (z. B. gegen die rechtskonservative Politik Uribes oder gegen die gezielten Vertreibungen der Landbevölkerung durch paramilitärische Verbände). Angestrebt wird dabei eine emotionale Einbeziehung des Zuschauers und ein Anstoß zu individueller und kollektiver Trauerarbeit, wie der Film Retratos en un mar de mentiras von Carlos Gaviria (2010) aufs beste verdeutlicht.
Burghardts hier vorgelegte Dissertation kann mit Fug und Recht als einer der gelungensten Beiträge zur kolumbianischen Filmgeschichte im Ganzen betrachtet werden. Die schwierige Beschaffung des teilweise wenig bekannten Filmmaterials, die luzide und textnahe Analyse und Interpretation der Filme sowie die klare und verständliche Sprache abseits jeglichen universitären Fachjargons geben nicht nur tiefe und bereichernde Einblicke in ein hierzulande wenig bekanntes Kapitel der kolumbianischen Kultur, sondern machen die Lektüre zu einem höchst erkenntnisfördernden Leseabenteuer.